Die Klinik ist in verschiedene Säle bzw. Pabellones eingeteilt. Ich wurde dem „Pabellón italiano“ zugeteilt, eine gemischt kardiologisch-nephrologische Station, auf der 15 Frauen auf der einen Seite und 15 Männer auf der anderen Seite lagen. Anders als in Deutschland gab es keine Krankenzimmer, sondern einen großen Saal, in dem lediglich Alu-Stellwände etwas Privatsphäre zuließen. Es gab ein Arztzimmer von etwa 12 qm mit einem Schrank und einer Liege und 3 Tischen für 7 Assistenzärzte aus dem ersten Jahr und 2 Assistenzärzte aus dem 2. und 3. Ausbildungsjahr. Laptop und Drucker musste jeder Arzt selbst bezahlen und mitbringen. Es gab einen Chefarzt und einen Oberarzt. Der klinische Alltag lief wie folgt ab: Bis 8 Uhr mussten täglich über jeden Patienten Arztbriefe geschrieben werden, incl. Anamnese, körperlicher Untersuchungsbefund, Ergebnisse durchgeführter diagnostischer Verfahren, Epikrise, Medikamentenplan. Um 8 startete eine ausführliche Visite, in der jeder Arzt am Patientenbett über seinen Patienten referieren musste: meist las er seinen 1-2 seitigen Arztbrief vor, welcher anschließend kleinlichst auseinandergenommen wurde. Nicht selten mussten sich die jungen Assistenzärzte Beschimpfungen gefallen lassen, wenn die Arbeit nicht nach den Vorstellungen des Chefarztes abgeschlossen war. Oft wurde auch detailliertes Lehrbuchwissen, angelehnt an den Fall, abgefragt. Konnte dieses nicht beantwortet werden, wurde zur Strafe ein Nachtdienst oder eine schriftliche Ausarbeitung verlangt. Bei 30 Patienten zog sich diese Visite bis in den frühen Mittag hinein. Ich nahm dies als sehr ineffektiv, zu wenig patientenbezogen und wenig lehrreich war, da selten größere Zusammenhänge, Komplikationsmöglichkeiten einer Erkrankung oder ihre Dringlichkeit erörtert wurden, sondern viel lieber auf Definitionen und Faktenwissen herumgeritten wurde, welches in der heutigen Zeit sehr schnell im Internet recherchiert werden kann. Außerdem verursacht dieses „Am-Gängelband-führen“ eher Demotivation, Nachlässigkeit und Abgabe von Verantwortung, statt dem erwünschten Gegenteil. Insgesamt war die Atmosphäre beherrscht vom ausgeprägten hierarchischen Denken des Chefarztes und der älteren Assistenzärzte, sowie dem Bestrafen, Misstrauen, Zwang und damit einhergehender Nachlässigkeit geprägt. Auch mich hat die Behandlung der jungen Assistenzärzte demotiviert. Ich hatte den Eindruck, dass es in dieser Abteilung nicht um das Wohl der Patienten ging, sondern hauptsächlich darum, den jungen Kollegen dauernd zu zeigen, dass sie nichts können. Auf der anderen Seite war ich zum Teil auch sehr überrascht über das geringe theoretische Wissen der Assistenzärzte, welches sie aus dem theorielastigen Studium mitbringen. Diese Erfahrung erinnert mich sehr an meinen Studienaufenthalt in Sevilla, Spanien. Dort wurden die Medizinstudenten regelrecht angefüttert mit großen Massen an Detailwissen und gleichzeitigem Vernachlässigen des Verstehens größerer medizinischer Zusammenhänge und des Lernens an Fällen. Letzteres liegt dem ärztlichen Handeln am nächsten und ist in unserem Studium in Deutschland schon seit Längerem integriert.
Nach dieser unbefriedigenden Visite gingen die Ärzte wieder ins Arztzimmer und verbesserten ihre Briefe. Nur selten suchten die Ärzte ihre Patienten für eine Untersuchung auf. Meist organisierten sie in dieser Zeit diagnostische Verfahren, was oft kompliziert war: Man musste meist persönlich zu den zuständigen Ärzten gehen und diese bestechen, da sonst die Untersuchung verschoben worden oder nicht korrekt abgelaufen wäre. Überhaupt mussten die Patienten meist ihre Medikamente und Untersuchungen selbst bezahlen, was bei einigen Patienten auch zu Zeitverzögerungen in der Diagnostik und Therapie führte.
Ab ca. 14 oder 15 Uhr begann dann die Nachmittagsvisite, welche die beiden Ärzte aus dem 2. und 3. Jahr durchführten. Häufig waren nicht alle Ärzte gleichzeitig zum vereinbarten Termin da, sodass wir zum Teil eine halbe bis dreiviertel Stunde im ersten Patientenzimmer standen bis die letzten eintrudelten und die Visite beginnen konnte. Auch nachmittags wurden die bereits revidierten Arztbriefe vom Mittag wieder genauestens unter die Lupe genommen und jeder Schreibfehler ausführlichst thematisiert. Dabei standen dann die anderen 6 Assistenzärzte gelangweilt daneben. Diese Nachmittagsvisite zog sich meist in den Abend hinein, sodass die Ärzte erst gegen 18 oder 19 Uhr ihre Arbeit wieder aufnehmen konnten. Dieser Rhythmus bewirkte, dass viele Ärzte oft bis Mitternacht blieben und schon gegen 6 Uhr früh wieder am Schreibtisch saßen. Sie wurden von Tag zu Tag müder und selbst am Wochenende wurde gearbeitet.
Jeweils montags und donnerstags hielt der Chefarzt seine Sprechstunde ab, in welcher ich und ein weiterer Assistenzarzt zuschauen sollten und immer die gleichen Aufgaben hatten: die Liege mit dem Tuch sauber hinrichten, abhören, Blutdruckmessen, Gewicht und Größe bestimmen. Fragen oder Diskussion über die Patientenfälle waren nicht erwünscht. Außerdem sollte alles sehr schnell gehen, sodass der Lerneffekt gering war. Eine der wenigen erfreulichen Erfahrungen in diesem Praktikum war Dr. Lóza, ein Oberarzt und ehemaliger Leiter der Klinik, der immer sehr freundlich war und leidenschaftlich gerne das EKG und viele kardiologische Zusammenhänge erklärte. Auch seine Vorlesung besuchte ich gerne.
An praktischen Tätigkeiten konnte ich wenig selber machen und wenig zusehen, da die Ärzte die meiste Zeit in der Visite festgehalten wurden oder selbst am Schreibtisch saßen.
Nach wenigen Tagen sprach ich mit dem Chefarzt über die Praktikumsbedingungen und schlug Änderungen vor. Allerdings wies er diese zurück und machte mir klar, dass ich den Lauf der Dinge in der Klinik so akzeptieren solle oder andernfalls nach Deutschland zurückfliegen könne. Ebenso unterbreitete er mir wenige Tage nach meiner Ankunft, dass ich pro Monat 200 Dollar bar bezahlen solle, mit der Begründung, dass das Krankenhaus arm sei. Dazu muss man wissen, dass 200 Dollar etwa das Monatsgehalt einer Krankenschwester ist. Wo das Geld dann hinfließen würde, sagte er nicht.
Darüber hinaus eröffnete er mir, dass er mir die Unterschrift des Dekans nicht zusichern könne.
Schon nach wenigen Tagen dachte ich darüber nach, das Praktikum abzubrechen. Ich überlegte hin und her und wollte zunächst durchhalten mit der Hoffnung, dass sich etwas bessern würde. Besonders zu schaffen machte mir das hierarchische Denken und Handeln, der Zwang und das Misstrauen, mit dem die Assistenzärzte behandelt wurden, die überzogenen Arbeitszeiten, die von mir auch verlangt wurden und das ineffiziente Arbeiten durch die Müdigkeit und die prekären Bedingungen im Arztzimmer. Die unsichere Dekansunterschrift war besonders gravierend, da der Chefarzt nicht bereit war, das im Vorhinein abzuklären, sondern es darauf ankommen lassen wollte, wie der Dekan nach den 2 abgeleisteten Monaten reagieren werde. Das Landesprüfungsamt Baden-Württemberg verlangt jedoch nach dieser Unterschrift und bei Fehlen, würde mir im schlimmsten Fall das gesamte Praktische Jahr nicht anerkannt werden.
Besonders mit dem Wissen, dass in Deutschland eine sinnvollere Ausbildung mit menschlichen Arbeitszeiten und einer freieren, wohlwollenderen Haltung geboten wird, beschloss ich das PJ-Halbtertial abzubrechen.
Bewerbung
Etwa 5 Monate vor dem Beginn meines Inneren-Tertials begann ich mit den Planungen für meinen Auslandsaufenthalt.
Bei Recherchen im Internet stieß ich auf einen positiven Bericht über die Kardiologie des Hospital de Clínicas und auch die Emailadresse des Chefarztes (Prof. Dr. Samuel Cordova Roca: samcordovaroca@yahoo.com.ar). Ich bekam auch sehr schnell eine Antwort mit einer Auflistung der akademischen Lehrveranstaltungen unter der Woche, an denen ich teilnehmen könne.