Ich habe 4 Monate meines PJs in der Chirurgie in Lagos, Nigeria verbracht. Vorab: Ich hatte sowohl in der Vorbereitung des Tertials als auch währenddessen viel Unterstützung durch meine Familie vor Ort, im Alleingang kann man es sicher unter manchen Vorkehrungen auch versuchen, jedoch dazu am Ende des Berichtes mehr.
Das Lagos State University Teaching Hospital (LASUTH) ist eines der beiden staatlichen Universitätskrankenhäuser. Als ehemaliges General Hospital Ikeja versorgt es die Bürger und Bürgerinnen im gesamten Metropolgebiet, mit einem Fokus auf den Norden der Stadt.
Bewerbung:
Die Bewerbung war etwas langwierig - ich habe lange recherchiert, um die Kontaktdaten der passenden Ansprechpartner zu finden. Der Email-Verkehr war etwas schleppend, da muss man also hinterher bleiben. Die Studiengebühren habe ich zwecks Zahlungssicherheit durch meine Verwandten vor Ort bezahlen lassen. Außerdem ist es in Nigeria immer hilfreich und effizienter, persönlich vor Ort vorzusprechen und sich bei den Verantwortlichen regelmäßig in Erinnerung zu rufen. Anrufen geht in der Regel auch besser als Emailverkehr. Insgesamt hatte ich aufgrund des Anerkennungsprozesses eine Vorlaufzeit von 9 Monaten bis zum Start des Tertials, geht aber sicher auch schneller.
Ablauf des Tertials:
Bei Ankunft durfte ich mir sehr frei meine Rotationen zurechtlegen, ich entschied mich für je einen Monat in der Allgemeinchirurgie, Kinderchirurgie, Neurochirurgie und der chirurgischen Notaufnahme. Auch wenn die Rotationen durch das jeweilige Personal zwischenmenschlich sehr unterschiedlich geprägt waren, unterschied sich der grobe Ablauf in den Fachrichtungen kaum:
-Ein bis zwei Tage die Woche ist das jeweilige Team "on call" und nimmt alle neuen PatientInnen der Notaufnahme auf, die dann bis zur Entlassung auch von diesem Team betreut werden. Das führt zu langen Arbeitszeiten und fast täglicher Anwesenheit in der Klinik. Ich selbst bin regulär von Mo-Fr gegangen. Insgesamt eher entspanntes Verhältnis zur Anwesenheit, man hat aber natürlich mehr gelernt und erklärt bekommen, wenn man sich motiviert gezeigt hat.
-Einmal die Woche fand eine Chef/OA-Visite (Consultant Ward Round) aller aufgenommener PatientInnen statt, an den anderen Tagen meist eine Senior Resident Ward Round. Bis auf die Kinderchirurgie, die ihre eigene Station im Kinderhaus hat, umfasste die Visite verschiedene über das Krankenhaus verteilte Stationen, z.B. waren die Male und Female Surgical Wards voneinander getrennt. Oft mussten PatientInnen gesucht werden, sodass neben den ausführlichen Lehrvisiten und bed-side Falldiskussionen die Visite gerne mal den ganzen Tag dauern konnte. Da das gesamte Team vor dem Consultant zu erscheinen und möglichst zu glänzen hatte und ab und zu Studentengruppen aus jüngeren Semestern dazu stießen, waren wir teilweise mit bis zu 20 Personen auf der Visite unterwegs.
-Ein- bis zweimal wöchtenlich gab es die prä- und post-OP Ambulanzsprechstunden im Outpatient Department. Hierbei saß man von ca. 9 bis 18 Uhr in einem kleinen mit Tisch, 2 Plastikstühlen und einer Liege ausgestatteten Zimmer ohne Fenster - der Ventilator, selten Klimaanlage funktionierte in der Regel, aber nicht immer - und schaute sich bis zu 50 PatientInnen pro Arzt an. Das ganze wurde nur noch in die Länge gezogen, da oft mehrere PatientInnen gleichzeitig das Zimmer "stürmten" und die gerade stattfindende Sprechstunde unterbrachen, um eigene Anliegen zu besprechen. Definitiv der anstrengendste Tag der Woche, da mit vielen Diskussionen verbunden. PatientInnen auf dem vollen Flur aufrufen gelang mir persönlich nur mit Mikrofon.
-Einmal die Woche hatte das jeweilige Team (in der Allgemeinchirurgie gab es 3 Sub-Teams) OP-Tag. Insgesamt gab es nur 5 OP-Säle, woraus sich die logistische Aufteilung der OP-Tage ergab. Hinzu kam, dass das Personal der Anästhesie aus verschiedenen Gründen teils nicht verfügbar war, sodass sich die Saal-Verfügbarkeit noch reduzieren konnte. OP-Tage waren die spannendsten, da ich mich oft mit einwaschen und assistieren durfte. Trotzdem auch hier eine hohe Frustrationstoleranz gefordert, da die erste OP oftmals erst nach 10 Uhr starten konnte und auch die Wartezeiten zwischen den OPs extrem lang werden konnte. Die große Mehrheit der OPs findet offenchirurgisch statt, die eine laparoskopische Cholezystektomie während meines Aufenthaltes wurde akribisch vorbereitet und zog am selben Tag viele Schaulustige aus anderen Fachbereichen an. Große Eingriffe finden in Allgemeinanästhesie statt, jedoch zählt z.B. eine Leistenhernien-OP als "minor surgery" und wurde unter Lokalanästhesie bei einem deutlich schmerzgelagten Patienten durchgeführt. Die Ausstattung des OPs war insgesamt o.k., auf Sterilität wurde gut geachtet, jedoch flog manchmal der ein oder andere Moskito übers OP-Gebiet. Der OP-Trakt und die Intensivstation (insgesamt nur ca. 10 Beatmungsplätze verfügbar) waren mit Stromgeneratoren ausgestattet - davon fiel einer jedoch plötzlich aus, sodass der Patient 40 minuten lang manuell ventiliert werden musste und in der Zwischenzeit ein WM-Spiel im Saal geschaut wurde, da die Lichtverhältnisse ein Operieren unmöglich machten. Sehr eindrücklich fand ich die Kraniotomien in der Neurochirurgie, bei denen statt eines elektrischen ein manueller Bohrer benutzt wurde, sodass die Schädeleröffnung alleine 1,5 Stunden dauerte! Die Outcomes der PatientInnen waren i.d.R. zumindest kurzfristig ziemlich gut - ich habe trotz relativ unhygienischen Verhältnissen (niedriger Desinfektionsmittelgebrauch, Wundversorgung hing sehr stark von dem vorhandenen Verbandsmaterial ab) kaum (Wund-)Infektionen gesehen oder andere post-op Komplikationen gesehen. Allerdings muss man gerade bei onkologischen PatientInnen von einer hohen Rezidivrate ausgehen, da Chemotherapien weniger verfügbar sind als in Deutschland und sich viele PatientInnen solche Therapien nicht leisten können.
Das nigerianische Gesundheitssystem:
Prinzipiell gibt es in Nigeria keine gesetzliche Krankenversicherung, und auch die privaten Versicherungen sind nicht weit verbreitet. In der Praxis bestimmt also das "Budget" der PatientInnen sowohl die medizinische Handlungsmöglichkeiten als eben auch den Krankheitsverlauf. Viele Menschen stellen sich erst sehr spät ärztlich vor, sodass gerade in der Chirurgie beeindruckende Pathologien gesehen werden können. Gerade in der Notaufnahme habe ich z.B. viele PatientInnen mit fortgeschrittenem mechanischen Ileus bei bereits tastbaren abdominellen Tumoren gesehen. Interessanterweise gehört die Brustchirugie hier auch zur Allgemeinchirurgie, sodass auch viele fortgeschrittene Mamma-Ca gesehen werden können. Überwiegend aufgrund der finanziellen Lage, aber auch aus Skepsis vor dem Gesundheitssystem beziehen viele Menschen zunächst traditionelle Medizin - ein interessantes Beispiel war eine Patientin mit fortgeschrittener Struma, die Skarifikationen von einem traditionellen Heiler durchführen ließ, um der "madness/folly" vorzubeugen, die solche PatientInnen oft heimsucht. Dies hat den pathophysiologischen Hintergrund, dass der häufig zugrundieliegende Iodmangel zu einer TSH-Erhöhung führt, die wiederum psychiatrische Auffälligkeiten mit sich bringen kann... Also spannende Konzepte von Krankheit. Ein anderes, schönes Beispiel von der Kombination aus Glauben und Wissenschaft war ein Consultant der Kinderchirurgie, der vor einem komplizierten Eingriff bei einem Neugeborenen (Kasai-OP) nach dem Team Time-Out noch kurz für einen guten OP-Verlauf gebetet hat. Insgesamt ist Gottesfürchtigkeit sehr verbreitet und der Medizin oft übergeordnet - ein Todesfall wird nicht selten als Wille Gottes angesehen und zwar intensiv und laut betrauert, jedoch hingenommen. Allerdings nehmen auch in Nigeria die Gerichtsklagen auf Behandlungsfehler in den letzten Jahren zu.
Über die Rotation in der Notaufnahme möchte ich an dieser Stelle gesondert berichten: Da ich auf den chirurg. Stationen oft eher Bystander im Sinne eines Observerships war und Schwierigkeiten hatte, meine eigene Position und Aufgaben zu finden (das System ist UK-nah und sehr hierarchisch organisiert - die Stationsarbeit, BEs und Aufnahmen erledigen vor allem die House Officers im ersten Assistenzjahr, sodass es für mich selten eine praktische Aufgabe gab, stattdessehen wurde ich gut in theoretischem Wissen ausgefragt!), freute ich mich sehr über meinen Einsatz auf der Notaufnahme! Hier konnte ich, nachdem ich meine Fähigkeiten bewiesen hatte, recht selbstständig PatientInnen untersuchen und Zugänge legen. Teilweise im vorgefahrenen Auto der Familie unter der prallen Sonne, wenn es drinnen keinen Platz mehr gab. In diesen 4 Wochen habe ich das meiste gelernt und gesehen, v.a. Improvisationstechniken wie z.B. einen Handschuh als Stauschlauch verwenden. Es war aber auch emotional fordernd, da hier die Mortalität auf einmal steil anstieg - besonders Verkehrsunfälle mit SHT hatten eine schlechte Prognose, da sich die Familien die Intensivstation oft nicht leisten konnten, sodass bis auf eine O2-Therapie und Monitoring nicht viel für die PatientInnen getan werden konnte. Die zwei Fälle der Reanimation, die ich gesehen habe, wurden schnell frustran beendet, da weder ein Defibrillator noch Notfallmedikamente wie Adrenalin zur Verfügung standen. Ein Arzt fasste es gut zusammen: "Eigentlich betreiben wir hier keine Notfallmedizin, wir können Wunden nähen, Brüche gipsen oder schienen und je nach finanzieller Situation OPs anbahnen, jedoch im akuten lebensbedrohlichen Notfall leider nur wenig tun." Oft wurde sich auch gegen eine bildgebende Diagnostik entschieden, sondern aufgrund der Klinik eine OP-Indikation (zur explorativen Laparotomie) gestellt, um sicher zu stellen, dass sich die PatientInnen wenigstens die OP und den anschließenden stationären Aufenthalt leisten konnten. Generell habe ich, wie es so oft heißt, klinisch sehr viel von den ÄrztInnen mitnehmen können. Auf ausführliche Anamnesen und körperliche Untersuchungen wurde sehr viel Wert gelegt, weil es oftmals die Diagnose und weitere Schritte bestimmt hat. Zum Beispiel führte ausgeprägte konjunktivale Blässe oft zur Transfusionindikation, ohne erst einen Hb-Wert zu bestimmen. Viele Laborwerte wurden erst gar nicht bestimmt, weil sie zwar pathophysiologisch nachvollziehbar sind , aber keinen diagnostischen Mehrwert haben, wenn die Diagnose klinisch bereits gestellt wurde (z.B. erhöhtes CRP bei manifester Infektion).
Unterkunft und Organisatorisches:
Insgesamt fühlte ich mich nur bedingt gut betreut, da es keinen festen Ansprechpartner oder "PJ-Beauftragten" gib. Den Chef/Head of Department, der zwar sehr freundlich ist, habe ich genau 2x gesehen, am ersten Tag für die Rotationseinteilung und zum Schluss für die Unterschrift. Die Sekretärin des Elective Committees benimmt sich ziemlich entitled, war nur mit Termin zu erreichen und hat mir die Ausstellung meiner Unterlagen gegen Ende des PJ nicht einfach gemacht - also frühzeitig darum kümmern! Mein Lernfortschritt lag, noch mehr als in Deutschland in meinen eigenen Händen.
Auch eine Unterkunft wurde nicht gestellt, das Student Hostel war zu der Zeit komplett belegt. Ich selbst bin bei meiner Familie untergekommen, jedoch sollten Studierende ohne persönliche Kontakte in der Stadt m.M.n. unbedingt auf dem Campus wohnen. Auf dem Campus habe ich mich sehr sicher gefühlt, aber insgesamt fällt man als Nicht-Schwarze Person eben sehr auf und sollte sich schon wachsam verhalten.
Vorbereitung:
-Ich habe mir Arbeitskleidung (Kittel, mehrere Kasacks) selbst mitgebracht. Der Dresscode ist chic - die meisten tragen trotz tropischen Temperaturen lange Oberteile und Hosen! Für Frauen Hosen oder knielange Kleider/Röcke mit Ballerinas, für Männer mindestens Hemd und Hose mit geschlossenen Schuhen, bei Chefvisite oftmals auch Krawatte, manche sogar in Anzügen. Desinfektionsmittel und Handschuhe habe ich mir selbst mitgebracht und würde es unbedingt empfehlen! Alles medizinische Material muss von den PatientInnen selbst gekauft werden und ist deswegen oft nicht verfügbar. Ein Stauschlauch würde das Leben sehr viel einfacher machen.
-Eine kleine Bauchtasche o.Ä. für den Stationsalltag, in dem alle Wertsachen, Stethoskop etc. gut transportiert werden können bei langen Wegen über den Campus.
-Malariaprophylaxe und Reiseimpfungen. Es gibt keine gesonderten Vorsorgeuntersuchungen seitens der Uni. FFP3-Masken hatte ich dabei, aber selten genutzt. Die HIV- und TB-Raten sind niedrig.
-Vorbereitung auf Medical English nicht zu unterschätzen (hätte mir einige unangenehme Situationen erspart, gerade weil viel Pathophysiologie abgefragt und diskutiert wird und mir da oft die Begriffe fehlten). Unter dem ärztlichen Personal wird überwiegend Englisch gesprochen. PatientInnen sprechen meist Nigerian Pidgin, und lokale Sprachen (vor allem Yoruba, aber auch Igbo, Hausa, ...).
-Versicherungen.
Zusammenfassung
Insgesamt bin ich sehr froh über das Tertial in Nigeria und möchte die Erfahrung nicht missen. Das hat aber überwiegend persönliche Gründe. Ich habe das Land definitiv nicht als so erschreckend kennengelernt, wie es in den Medien leider gerne dargestellt wird. Jedoch sind viele Gegebenheiten eben anders und man muss sich von manchen europäischen Verhaltensweisen verabschieden, um eine gute Zeit zu haben. Wer dazu bereit ist, wird das Land und die Menschen lieben lernen! Trotzdem gibt es in Westafrika mit Sicherheit Länder, in denen gerade die Organisation eines solchen Aufenthaltes evtl. etwas leichter gemacht wird.
Wer Lust auf mehr Erfahrungsberichte und Stories aus Nigeria hat, kann gerne auf meinem Blog vorbeischauen: Explore Nigeria with me (wordpress.com) !
Bewerbung
s.o. 9 Monate vorher per Mail und persönlich vor Ort